Auf Besuch bei den Brüdern Goncourt!

Ich bin frankophil. Was nicht heisst, dass mein Urteilsvermögen vernebelt ist, wenn es um Alain Claude Sulzers neuen Roman «Doppelleben» geht. Darin widmet sich der Schweizer Autor den beiden Brüdern Goncourt aus Frankreich und beschreibt eindringlich das Sterben des einen und den Abschiedsschmerz des anderen. 

Buchtipp: «Doppelleben» von Alain Claude Sulzer
«Doppelleben» von Alex Claude Sulzer erzählt auch die Geschichte der Haushälterin der Goncourt neu.

Paris, 1869. Das Geschwisterpaar Edmond und Jules werden von Prinzessin Mathilde zum traditionellen Mittwochsdejeuner in der Rue de Courcelles erwartet. Die Prinzessin hat eine Vorliebe für Künstler. Sie schätzt die beiden Brüder als Dichter und hellwache Denker. In dicken Mänteln trotzten die Brüder der kalten Winterluft. Sie sind unterwegs zu Mathilde Bonaparte als ihre Kutsche mit einem entgegenkommenden Gefährt kollidiert. Edmond und Jules werden nach vorne geschleudert, Glas zersplittert, Blut spritzt. Die Brüder haben Glück im Unglück, doch ahnen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ungleich Schlimmeres auf sie zukommen wird.  

Wir treffen bei der Prinzessin Mathilde die Grossen des französischen Geisteslebens: die Goncourt, Heine, Baudelaire, Flaubert, Victor Hugo, Zola, Huysmans, Daudet, Maupassant.
Wir treffen bei der Prinzessin Mathilde die Grossen des französischen Geisteslebens: die Goncourt, Heine, Baudelaire, Flaubert, Victor Hugo, Zola, Huysmans, Daudet, Maupassant.

Daumen rauf

  • Schillernd. Alain Claude Sulzer lässt eine Epoche auferstehen. So farbenprächtig, intensiv und stimmungsvoll, dass ich mich als stille Beobachterin im Haushalt der Brüder Goncourt wähne.
  • Bedeutsam. Die Brüder Goncourt haben gemeinsam akribisch Tagebuch geführt. 7000 Seiten umfasst ihr legendäres «Journal 1851-1896» mit unverblümten Alltagsbetrachtungen, Beobachtungen, Gedanken, Klatsch und Tratsch über die Pariser Hautevolee. Nicht von ungefähr wurde der bedeutendste französische Literaturpreis «Prix Goncourt» nach den beiden Literaten benannt. Edmond legte die Stiftung dieses Preises noch in seinem Testament fest.
  • Realistisch. Mit ihrem wirklichkeitsnahen Schreiben begründeten die Brüder Goncourt den Naturalismus. Eines ihrer Schlüsselwerke ist beispielsweise der Roman «Germinie Lacerteux». Darin schildern die Goncourt das Leben ihrer Hausangestellten Rose Malingre, die ein Doppelleben führte. Mit diesem Roman über eine Nichtprivilegierte sorgten die Goncourt für Aufsehen. In gehobenen Kreisen wurde eine «Dienerin» als Romanfigur als Affront aufgefasst. Doch der französische Schriftsteller Émile Zola erkannte die Zeitenwende und zeigte sich zutiefst von der Leistung der Goncourt beeindruckt.
  • Mitfühlend. «Doppelleben» ist Alain Claude Sulzers empathische Antwort auf das empathielose naturalistische Schreiben der Goncourt. Er stellt die tragische Lebensgeschichte der Hausangestellten Rose, derjenigen der Goncourt gegenüber. Das ist klug. Denn gerade dadurch werden sie als Charaktere und in ihrer Selbstbezogenheit überdeutlich gezeichnet. Ausgerechnet die grössten Beobachter ihrer Zeit bemerken nicht, dass vor ihren Augen ein Mensch zu Grunde geht, der sie seit ihrer Kindheit treu umsorgt!
  • Berührend. «Doppelleben» ist die Geschichte einer Bruderliebe. Edmond, 16, verspricht der sterbenden Mutter, dass er auf seinen jüngeren Bruder Jules, 7, aufpassen wird. Doch was er nicht verhindern kann: mit 20 Jahren steckt sich Jules mit Syphilis an. Mit warmen mineralischen Bädern - dafür reisen sie u.a. auch nach Leuk  in die Thermen -  versuchen die Brüder die Krankheit in Schach zu halten. Doch sie fordert ihren Tribut. Jules stirbt mit 39 Jahren. Alain Claude Sulzer beschreibt das Sterben des einen und den Verlust des anderen so eindringlich, dass es beim Lesen schmerzt. 

Daumen runter

Schade hat «Doppelleben» nicht auch 7000 Seiten! 

Das Buch  «Doppelleben» von Alain Claude Sulzer liegt auf einer Porzellan-Platte
Zarte Schärfe, zurückhaltende Säure: «Doppelleben» schmeckt wie das Lieblingsessen von Edmond und Jules Goncourt und das ist Froschschenkel à la meunière.

Der Autor

Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Unhaltbare Zustände. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

 

Das Buch: Alain Claude Sulzer: Doppelleben (Galiani Berlin, 2022) 

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