Diese Liebesgeschichte berührt meine Seele

Die Lyrikerin Leta Semadeni versteht es, Geschichten auf ein Minimum zu reduzieren. Ihr zweiter Roman «Amur, grosser Fuss» ist die poetische Geschichte einer grossen Liebe, so zurückhaltend erzählt, dass sie direkt die Seele berührt. 

Der Buchtipp von Annette König  im April: «Amur, grosser Fuss» von Leta Semadeni
Annette König ist von dieser romantischen Liebesgeschichte voller Erinnerungslücken angetan.

Olga erinnert sich an die schönsten Augenblicke mit ihrem Liebsten. Sie hat Radu in Ecuador kennengelernt. Das war vor Jahrzehnten. Damals hat sie als Zeichnerin an einem wissenschaftlichen Projekt über Orchideen mitgearbeitet und für einen Monat ihre Bündner Heimat gegen das brennend sonnige Ecuador eingetauscht.

 

In Quito verliebte sie sich sofort in ihn. Wie er da an seinen Geländewagen lehnte und sich durch die Haare fuhr. «Doch wenn man es weiss, ist man schon auf dem besten Weg es zu verlieren, dachte Olga. Das Glück wollte hautnah an seinen Menschen heran, es verlangte eine bedingungslose Hingabe. Man fand es nur in absoluter Selbstvergessenheit».

 

Und dann im Bus zur täglichen Arbeit hatten sich ihre Blicke zum ersten Mal gekreuzt. Schon damals zeichnete sich der Ernst dieser Liebe ab: «Die grossen Dinge im Leben haben nichts gemein mit einem Lächeln.» Schon damals hat Olga geahnt, dass das Glück, nicht einfach werden würde.

 

Radu war Naturfilmer und überall auf der Welt zu Hause. Das kleine Bündner Bergdorf von Tamangur, wo Olga bei ihren Grosseltern aufgewachsen ist und noch immer lebt, war sein Basislager. Von dort ist er immer wieder an die entlegensten Orte aufgebrochen.

 

Für Olga waren diese Abschiede schwer, sie hatte ihm deswegen einst Vorhaltungen gemacht. Das war vor seinem Abflug nach Wladiwostok, wo er an einer Zählung der verbleibenden Amur-Tiger mitwirken wollte. Das war, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Olga versucht sein Gesicht aus der Erinnerung herbeizulocken.

Daumen rauf

  • Überzeugend.  Nach dem Erfolg ihres Debüts «Tamangur» überzeugt auch Leta Semadenis zweiter Roman «Amur, grosser Fuss». Die Autorin erzählt stimmungsvoll und mit psychologischem Einfühlvermögen von einer Liebe zwischen Nähe und Distanz. Eine Liebe, die für Olga ein bisschen zu gross war, um nicht daran zu verzweifeln. Und als Leserin ertappe ich mich beim Wunsch, dass sich Olga aus dieser emotionalen Abhängigkeit endlich befreien kann.
  • Klar.  Erst das Alter ermöglicht Leta Semadenis Protagonistin einen klareren Blick. Lang Verdrängtes kämpft sich immer häufiger an die Oberfläche. Und je länger Olga lebt, desto mehr realisiert sie, dass sie den Schmerz nicht nur erfahren, sondern auch bewusst zugelassen hatte.
  • Poetisch. Die Geschichte entwickelt sich in kurzen poetischen Kapiteln, wie gefilmte Momentaufnahmen von Olgas Erinnerungen: Momente des Glücks, Momente des Schmerzes, Momente der Einsamkeit und des Abschiednehmens.
  • Ungewohnt. Die Geschichte ist aus der Perspektive einer alternden Frau erzählt. Erinnerungen verblassen, Erinnerungslücken tun sich auf. Vieles wird nur angedeutet. So wie Olga seelisch und mental zu fragmentieren scheint, ist auch ihre Liebe zu Radu erzählerisch in Teile zerlegt. Mit diesem literarischen Verfahren bricht Leta Semadeni mit den Erwartungen ihrer Leserschaft. Hier wird keine stringente romantische Love-Story mit einem glücklichen Ende erzählt. Die Liebe zu Radu, den Olga nicht halten kann, lässt sie bis an ihr Lebensende nicht mehr los.
  • Philosophisch. In ungemein treffenden und klugen Sätzen, die von viel Lebenserfahrung zeugen, folgt Leta Semadeni dem Flusslauf der Liebe. Doch je mehr sich das Wasser dem grossen Ozean nähert, desto kleiner und unbedeutender erscheinen Olga die schmerzlichen Dinge der Vergangenheit. Denn alles bewegt sich fort und nichts bleibt: weder die Liebe noch die Erinnerungen noch das Leben.

Daumen runter

Nada. 

Annette König hat sich an «Amur, grosser Fluss» berauscht: «Der ausgiebige abendliche Genuss von Tequila hatte dem Himmelskörper einen anderen Ausdruck verliehen. Er war so geheimnisvoll wie noch nie. Sie tauften ihn feierlich Tequila Moon.»
Annette König hat sich an «Amur, grosser Fluss» berauscht: «Der ausgiebige abendliche Genuss von Tequila hatte dem Himmelskörper einen anderen Ausdruck verliehen. Er war so geheimnisvoll wie noch nie. Sie tauften ihn feierlich Tequila Moon.»

Die Autorin

Leta Semadeni, geboren 1944 in Scuol, Engadin, studierte Sprachen an der Universität Zürich. Leta Semadeni schrieb  zunächst vorwiegend Lyrik, auf Romanisch und Deutsch. Nach dem grossen Erfolg ihres ersten Romans «Tamangur» legt sie nun ihren zweiten Roman vor. Semadeni wurde vielfach ausgezeichnet: 2016 mit dem Schweizer Literaturpreis, 2017 folgte der Büdner Kulturpreis, 2020 der Josef Guggenmos-Preis.

 

Das Buch: Leta Semadeni: «Amur, grosser Fuss» (Atlantis Verlag, 2022) 

 

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