Irene Disches «Die militante Madonna» erzählt die umwerfende Geschichte von Charles d'Éon de Beaumont. Ein VIP aus dem 18. Jahrhundert. Er war Chevalier, Degenfechter, Soldat, Spion, Botschafter, Schriftsteller, mal Mann, mal Frau – wie es ihm gefiel oder die Lebensumstände es von ihm verlangten.
Der Chevalier d’Éon kann es nicht fassen. 250 Jahre nach seinem Ableben glaubt die Welt, die Wahlfreiheit ein Mann oder eine Frau zu sein, erfunden zu haben. Conneries! Bereits zu seiner Zeit «in den obersten Gesellschaftsschichten, am kultiviertesten Hof der Welt kleideten sich die Männer wie Frauen und die Frauen wie Männer, und niemand regte sich über solche Kinkerlitzchen auf.»
Wir sitzen gemütlich in seiner ehemals prächtigen Bibliothek in Petty France, dem vornehmsten Teil von Westminster, wo er mir sein Leben, seinen Aufstieg und steilen Fall erzählt.
Als blondgelockte, zierliche Lea de Beaumont spionierte er für den französischen König die Zarin von Russland aus. Als gefürchteter Krieger und Fechter besiegte er im Siebenjährigen Krieg mit seinen Dragonern das preussische Heer. Und später, als er als illustrer Botschafter Versailles mitten in London zelebrierte, musste er untertauchen, weil in Herrenclubs astronomisch hohe Summen auf sein Geschlecht gewettet wurden. Und das ist bei weitem noch nicht alles!
Daumen rauf
- Abenteuerlich. Dieser Roman ist eine abenteuerliche Mantel-Degen-Geschichte ohne Kitsch, die mich auf eine Reise in die Zeit des Absolutismus mitnimmt. In Frankreich verprasst Marie-Antoinette gerade alle Steuergelder. In Amerika tobt der Unabhängigkeitskrieg und in Grossbritannien sorgt die Boulevardpresse für politisches Ränkespiel.
- Aktuell. Irene Dische befeuert mit ihrem Chevalier d’Éon den Gender-Diskurs. Ihr Held geht mit seiner sexuellen Identität selbstbewusst um. «Ich hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich in Wahrheit nun ein Mann oder eine Frau war.» Doch ich als Leserin will unbedingt wissen: Mann oder Frau, binär oder non-binär? Hmm. Die weit wichtigere Frage wäre doch wohl: Was für ein Mensch ist der Chevalier? Denn trotz grossem Selbstbewusstsein wird er auch von Selbstzweifel, Selbsthass und Einsamkeit heimgesucht.
- Umwerfend. Dieser Roman erzählt in Form eines (an)mutig-versnobt-entschlossenen Selbstzeugnisses die älteste Geschichte der Menschheit: den Liebesverrat. Irene Dische findet dafür eine der damaligen Zeit nachempfundenen Sprache, die sich wie Samt, Brokat und Puder anfühlt. Und unter all der Schminke, den Rüschen und der festgezurrten Schnürbrust erkenne ich eine verwandte Seele: «Bücher sind meine Heimat, und jedes von ihnen bietet mir unabhängig von Umständen und Stimmung sein eigenes Refugium.»
- Unglaublich. Es gibt Szenen in diesem historischen Roman, die überraschen. Beispielsweise wurde der Chevalier zurück an den Hof von Versailles befohlen und musste dort fortan als Frau mit turmhoher Perücke herumstolzieren.
- Et enfin. Dieser Roman ist voller Seitenhiebe auf das 18. und 21. Jahrhundert, die wiederum ihre Epoche scharf portraitieren. «In meiner Zeit kann man die Menschen schon allein an ihren Zähnen auseinanderhalten. In Ihrer Zeit sind alle Zähne gleich, und die Schminke wird mit einem Chirurgenmesser aufgetragen.»
Daumen runter
- Peu attirant. Der Buchtitel «Die militante Madonna» spricht mich nicht an. Und auch wenn ich nach 219 Seiten wissend mit meinem Kopf nicke, schiesst dieser hintersinnige Titel über das Ziel hinaus.
Die Autorin
Irene Dische wurde in New York geboren. Heute lebt sie in Berlin und Rhinebeck, New York. Bei Hoffmann und Campe erschienen unter anderem ihr Bestseller «Grossmama packt aus» (2005), der Erzählband «Lieben» (2006), die Neuausgabe ihres gefeierten Debüts «Fromme Lügen» (2007), der Roman «Schwarz und Weiss (2017) sowie gesammelte Erzählungen mit dem Titel «Zum Lügen ist es nie zu spät» (2018).
Das Buch: Irene Dische: «Die militante Madonna» (Hoffmann und Campe, 2021). Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach.
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