Was bedeutet Native sein?

Tommy Orange ist Cheyenne. In seinem Roman «Dort Dort» spürt er seinen Wurzeln nach. Schildert das Leben von urbanen Native Americans. Ein Buch kraftvoll, soundstark und modern wie eine elektrische Powwow Trommel. Im schnellen Rhythmus der Drumbeats tanze, singe und vergesse ich mich.

Annette König hält sich den Roman "Dort Dort" von Tommy Orange vor den Oberkörper.
Ich entdecke dank den Musik-Vorlieben von Tommy Oranges Romanfiguren in «Dort Dort» die Urfrau in mir. Der Musikband «A Trible Called Red» gelingt der Drahtseilakt zwischen Nähe und Distanz zur Tradition. Ihre Songs sind «Native» und zugleich modern.

Jacquie Red Feather kann das Leben nicht schönreden, weil es nicht schön ist. Ihre erste Tochter musste sie zur Adoption freigeben. Ihrer zweiten Tochter konnte sie keinen Lebenswillen schenken. Sie hat Suizid begannen und drei Kinder hinterlassen. Jacquie säuft, um die schmerzhaften Erinnerungen erträglich zu machen. Doch dann wird sie mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker nüchtern und kehrt zu ihrer Familie nach Oakland zurück.

 

Unterdessen hat Jacquie Red Feathers Enkel Orvil seine indianischen Wurzeln entdeckt. Er will am Big Oakland Powwow zum ersten Mal tanzen. In einer etwas zu kleinen Federtracht, die er im Schrank seiner Stief-Grossmutter Opal Viola Victoria Bear Shield gefunden hat. Doch auch Tony Loneman, Dealer und Gang-Mitglied ist dort. Er kommt mit bösen Absichten...

Skizze des Testbild aus "Dort Dort" von Tommy Orange.
Das Indian-Head-Testbild: Bis Ende der 70er Jahre wurde der Kopf eines Indianers an alle amerikanischen Fernseher gesendet, wenn das Programm zu Ende war. Für Tommy Orange sieht das Testbild allzusehr nach Bull's Eye und Fadenkreuz aus.

Daumen rauf

  • Mitreissend. «Dort Dort» ist ein vielstimmiger Roman über Identität, Zugehörigkeit und Familienbande. Zwölf Natives schildern ihr Leben. Ihre Berichte fügen sich zu einer einzigen Geschichte. Die Erzähltechnik ist vergleichbar mit einer Drohne. Sie schwebt über Oakland. Verfolgt die Romanfiguren, zoomt sie heran, filmt sie in den intimsten Momenten.
  • Furios. Tommy Orange zerschmettert alle erdenklichen Klischees, die über Native Americans verbreitet wurden und noch immer werden. Der Prolog ist mit Wut, Leidenschaft und Herzblut geschrieben. Eine kleine Kostprobe davon: «Uns in Städte zu bringen sollte der letzte Schritt unserer Assimilierung sein, unserer Absorption, Auslöschung, die Vollendung einer fünfhundertjährigen Völkermordkampagne. Aber die Stadt erschuf uns neu, wir machten sie uns zu eigen. (...) Ein urbaner Indianer gehört zur Stadt, und Städte gehören zur Erde. (...) Indianer sein hat nie eine Rückkehr aufs Land bedeutet. Das Land ist überall und nirgends.»
  • Bewegend. Tommy Oranges Figuren sind Antihelden und Kämpfernaturen. Sie graben sich einem ins Herz, gerade weil sie fehlbar sind. Zum Beispiel Tony Loneman, 21, Cheyenne. Er hat das fetale Alkoholsyndrom. Hängende Augenlider, offener Mund, weiter Abstand zwischen Nase, Augen, Mund. «Hab mich besoffen, ein kleines Säuferbaby, nicht mal ein Baby, eine kleine Scheisskaulquappe an einer Schnur, die im Bauch vor sich hin treibt.» Tony dealt Gras, seit er dreizehn ist. Sein Drom, so nennt er sein Syndrom, ist für ihn Kraft und Fluch zugleich. «Das Drom ist meine Mom und warum sie trank, es ist die Geschichte, die in einem Gesicht landet (...).»
  • Philosophisch. Dieser Roman lässt mich erahnen, was Native sein bedeutet. Ich verstehe jetzt, warum es so wichtig ist, dass man sich mit seiner Herkunft auseinandersetzt. Die Romanfigur Opal Viola Victoria Bear Shield illustriert das gut. Sie kümmert sich um die Enkel ihrer Halb-Schwester Jacquie Red Feather. Sie lernt ihnen, dass man die Geschichte seines Volkes kennen muss. «Dass du hier gelandet bist, hat damit zu tun, was Menschen getan haben, damit du jetzt hier bist.» Gleichwohl macht aber das die Sache so kompliziert. Denn wie soll man sich über seine Herkunft definieren, wenn das Dort der Vorfahren nicht mehr existiert. Diese philosophische Fragestellung liegt Tommy Oranges Roman zugrunde. Das unterstreicht auch der Buchtitel «Dort Dort». Er basiert auf einem Zitat der Schriftstellerin Gertrude Stein über Oakland: «Dort gibt es kein Dort». Das Oakland ihrer Kindheit, habe sich so verändert, dass das Dort von damals nicht mehr da ist. Und genau das ist auch den amerikanischen Ureinwohnern passiert.
  • Zu guter Letzt. Endlich räumt da mal einer mit dem Begriff Native American Indian auf. Mit diesem «seltsamen politisch korrekten Absicherungsbegriff, den man nur von Weissen hört, die noch nie einen echten Native gesehen haben.» Tommy Oranges Romanfiguren sind nämlich einfach Natives. Und zwar «so Native wie Obama schwarz ist». Das nenne ich pragmatisch!

Daumen runter

  • Unübersichtlich. Gerade weil der Roman aus zwölf Perspektiven geschrieben ist, die sich oft abwechseln, checke ich zu Beginn nur langsam «Wer Wer» in «Dort Dort» ist. Aber zum Glück ist da ein chronologisch geordnetes Personenregister.:-)
Neben dem Roman "Dort Dort" von Tommy Orange" liegen frisch gebackene Fry Breads.
MMMMH! «Dort Dort» schmeckt mir wie frisch gebackenes Fry Bread.

Der Autor

Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne and Arapaho Tribes. Er gilt als eine der wichtigsten Stimme der indigenen Gegenwartsliteratur. Tommy Orange lebt mit Frau und Sohn in Angels Camp, Kalifornien.

 

Das Buch: Tommy Orange: «Dort Dort » (Hanser Berlin, 2019)

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